"Nichts kann einen Freak aufhalten, wenn seine Zeit gekommen ist", schrieb Popjournalist Richard Goldstein im Jahr 1968. Er meinte damit einen der sonderbarsten Acts der Popgeschichte: Tiny Tim.
Das war sein Hit: file under novelty. Aber Tiny Tim mag ein Novelty Act für seine Eintags-Fans gewesen sein, für sich selbst war er Clown, Entertainer und menschgewordene Musikbox. Colin Escott schrieb 1987: "Er war ein wandelndes Nachschlagewerk der frühen und ganz frühen Popgeschichte. Man konnte ihn fragen, was man wollte. Er hatte sofort alle Einzelheiten parat." Um das Wunder Tiny Tim wirklich als solches erkennen zu können, um hinter die nervige Stimme und die meist katastrophale musikalische Begleitung hören zu können, muß man Tims ganze Geschichte kennen. Oder ein Kind sein: 1968 war Tiny Tim eine Art David Hasselhoff, der Held aller Kindergärten und Spielplätze.
Geboren wurde Tiny Tim wahrscheinlich 1925 in einem der Slums von New York als Sohn eines libanesischen Juden und einer polnischen Katholikin. Sein echter Name war Herberto Buckingham Khaury. Über die ersten dreißig Jahre seines Lebens ist wenig bekannt, außer daß er zu einem gut 1,90 Meter großen Kerl heranwuchs, der eine der größten Nasen des Bundesstaates im Gesicht hatte, Neigung zum Haarausfall, lange, dürre Beine, einen Kugelbauch und einen Kugelhintern sein eigen nannte.
Dazu ließ er sich die Haare bis über die Schultern wachsen und schminkte sich das Gesicht weiß mit zartroten Backen. In den vierziger und fünfziger Jahren gab es bestimmt leichtere Arten, durchs Leben zu kommen, als in diesem Aufzug. Daher wundert es auch niemanden, daß Herberto sich pro Tag bis zu sechs Filme im Kino ansah und die restliche Zeit sich in sein Zimmer einschloß, um Musik zu hören. Sein Vater sagte zu ihm, er sehe aus wie Jesus. Herberto hält das bis heute für ein Kompliment des alten Mannes. Um 1955 überraschte er seine Eltern mit der Nachricht, er habe jetzt genug über Musik und Showbusiness im Kopf, um selbst eine Karriere als Sänger anstreben zu können. Herberto nannte sich fortan Julian Foxglove, Larry Love oder Derry Dover, stellte sich in die U-Bahn oder sang den Pennern etwas vor.
1963 hatte Herberto, wie immer er sich da auch gerade nannte, ein treues Publikum gefunden. Er spielte Ukulele und sang seine eigenwilligen Versionen von Gassenhauern und alten Schlagern für die Lesben der Lower Eastside in deren Stammkneipe Page Three. Zwei Jahre lang konnte Herberto sich und seine verschiedenen Persönlichkeiten damit über Wasser halten. Er wurde zwar nicht berühmt, aber notorisch.
1965, als lange Haare und seltsame Kleidung zumindest in New York nicht mehr gleich zu Lynchmorden führten, konnte Tiny Tim, so hieß er inzwischen, ab und zu auch in anderen Clubs auftreten. Dort sah in ein Agent, nahm ihn unter Vertrag und vermittelte ihn für 50 Dollar Wochengage als Opening Act in den Scene-Club im Greenwich Village. The Scene wurde im Lauf der nächsten Jahre der hippste Laden der Stadt. Dylan, Warhol und deren Gemeinden hingen dort ab. Und Tiny Tim mit Ukulele und Fiestelstimme wurde zur Attraktion des 67er Nachtlebens.
Schnell wurde Tiny Tim der Liebling der Talkshows, mußte sich fragen lassen, warum er 150 Sorten Nachtcrème kaufe, warum er sieben mal täglich bade und ob er eine verdammte Schwuchtel wäre. Das naive Monstrum mit der Ukulele wurde irrtümlicherweise für einen libertären Freak oder eine Drag Queen gehalten. Dabei war er wirklich und wahrhaftig Aschenputtel, das seinen gut dotierten Plattenvertrag, seine Auftritte in Las Vegas, seine 10 000 Dollar Wochengagen nur für die gerechte Belohnung für seine langjährigen Mühen hielt. Das erste Mal in Los Angeles muß er einen furchtbaren Rausch gehabt haben, als er aus Höflichkeit anfing, Bier und Schnaps zu trinken, weil Leute es ihm anboten. Das erste Mal in einem Luxushotel hat er sich alles bestellt, was der Zimmerservice zu bieten hatte, und sich dann voller Bewunderung mitten hineingesetzt und es angeschaut. Und das schlimmste für Tiny Tim waren schnutzige Wörter und Flüche; selbst Love oder Sex sprach er nur aus, indem er die Wörter buchstabierte. Frauen hätte Tim schon gerne rumgekriegt, aber er fürchtete Gottes Zorn, wenn er vor der Ehe ein Mädchen auch nur küssen würde. Einige Male muß Tiny Tim aber gesündigt haben, denn in einem Interview betont er, daß es sehr anstrengend sei, "danach den Krebs aus der Seele zu entfernen und wirklich zu bereuen".
Tiny Tims nach 1968 langsam sinkender Sensations- und Unterhaltungswert konnte auch durch eine ziemlich monströse Talk-Show-Veranstaltung nicht mehr gebremst werden, in der Tim eine 17jährige namens Miss Vicky vor laufender Kamera ehelichte. Zwei Jahre und ein Kind namens Tulip später verließ Miss Vicky ihren Tiny Tim, der im Verzweiflungskampf gegen das Novelty Schicksal inzwischen auf eine Art Glamrock-Nummer umgestellt hatte. Damit tingelte er durch die kleinen und kleinsten Clubs der US-Provinz. Die Scheidung von Miss Vicky im Jahr 1977 ruinierte Tiny Tim dann vollständig. 1987, Tiny Tim war inzwischen beim Zirkus gelandet, nahm Playback Records nochmals eine Platte mit Tiny Tim auf, um den Eklektiker zu ehren und im Rahmen all der Sechziger-Jahre-Revivals ein paar Mark abzuklopfen. 1990 ging ein Anwalt im Namen Tiny Tims gegen eine Band vor, die auf einem Cover Tiny Tim mit vor die Nase gehaltener Knarre abgebildet hatte. "Ich habe meine Schallplatten immer im Dunklen gehört. Ich mußte allein sein mit den Schallplatten. Erst dann fühlte ich mich im Plattenspieler, eins mit den Sängern, eins mit der Musik. Ich hörte ihre Stimmen in meinem Kopf. Daher sind meine Songs auch keine Imitationen. Ich singe so, wie sich die Originale in meinem Kopf anhören. Was man hört, ist der Geist der Originale." Sowas Schönes sagte Tiny Tim 1968, und keiner konnte damals verstehen, was er meint. Und heute ist es wohl zu spät.
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